- Ton, Melodie, Harmonie, Rhythmus, Ethos: Elemente griechischer Musik
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Die Ansätze zu rationaler Deutung der Musik liegen im 6. Jahrhundert v. Chr.und sind verknüpft mit dem Namen und Schaffen des Pythagoras von Samos. Seine Lehre vom Kosmos als Harmonie und Zahl, von seinen Schülern, den Pythagoreern, erarbeitet und überliefert, begründete eine Tradition, die nachhaltig auf das europäische Geistesleben eingewirkt hat. Pythagoras soll nach antiker Anschauung den engen Bezug zwischen Tönen und Zahlen entdeckt haben, und diese Einsicht wurde zum Fundament für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Musik auf mathematischer Basis. Konsonant oder »harmonisch« galten den Pythagoreern die Intervalle mit den einfachsten Zahlenverhältnissen, die Oktave, die man erzielte, wenn man zunächst eine ganze Saite, danach eine ihrer Hälften zum Schwingen brachte (1:2), die Quinte (2:3) und die Quarte (3:4). Die anderen Intervalle wurden durch weitere Saitenteilungen gewonnen. Das so entstehende System aus Ganz- und Halbtönen angeordnet im Rahmen einer Doppeloktave, nannte man »Systema teleion« (vollständiges System); es bildete die Grundlage des griechischen Tonsystems. Älter als die Oktavskalen sind vermutlich die Tetrachorde (Viertonfolgen, eigentlich »vier Saiten«) gewesen, Tonfortschreitungen im Umfang einer Quarte, deren jeweils unterschiedliche Intervallstruktur als Tongeschlecht bezeichnet wurde. Das »diatonische« Tetrachord hatte in absteigender Folge die Intervalle Ganzton-Ganzton-Halbton (1+1+1/2), das »chromatische« bestand aus den Fortschreitungen 1 1/2 + 1/2 +1/2, das »enharmonische« 2+1/4+1/4. Man spricht hier auch von »unbestimmten« Fortschreitungen, wie sie offenbar in der Praxis vorgenommen wurden, da diese Kleinstintervalle schwer zu messen waren. In Musik umgesetzt, wurden den Tongeschlechtern bestimmte Wirkungen auf die menschliche Seele zugeschrieben, und sie sollten jeweils nur in bestimmten Lebenszusammenhängen gebraucht werden. Die Ausbildung des »vollständigen Systems« aus Tetrachorden mag sehr früh erfolgt sein, etwa mit Terpandros (frühes 7. Jahrhundert v. Chr.), und auch andere Autoren wie Archytas von Tarent (1. Hälfte des 4. Jahrhunderts), Euklid (4. Jahrhundert.), Kleoneides (2. Jahrhundert v. Chr.) und viele andere spielten hierbei eine große Rolle.Ausgehend von der Musikpraxis, zum Beispiel dem Normalumfang einer Kithara oder Lyra, die bis zu 17 Saiten haben konnten, kam man dazu, die Doppeloktavskala, die normalerweise im Rahmen von a1 bis A analog zur Grundskala der griechischen Notation dargestellt wurde, zu transponieren, also auf einen anderen Ausgangston festzulegen. Die so gewonnenen Skalen mit jeweils gleichen Intervallfolgen hießen »Tonoi«. Diese systematisch geordnet und auch als gleichmäßig chromatisch strukturiert aufgefasst zu haben, wird dem Aristotelesschüler Aristoxenos von Tarent (4. Jahrhundert) zugeschrieben. Seine tonalen Konstruktionen richteten sich auch nach dem Gehör und nicht ausschließlich nach komplizierten mathematischen Berechnungen kleinster Tonabstände, wie sie die Pythagoreer vornahmen; es kam zu Kontroversen zwischen »Aristoxenern« und »Pythagoreern«.Vom vollständigen System abgeleitet wurden die sieben »Oktavgattungen«, jeweils eine Oktave umfassende Reihen mit je anderem Ausgangston und unterschiedlichen Intervallfolgen. Sie erhielten Namen, die Ethnien innerhalb und außerhalb Griechenlands entlehnt waren und bei der Benennung der mittelalterlichen Kirchentonarten - allerdings missverstanden - wieder aufgegriffen wurden. Auch den Oktavgattungen wurden bestimmte Ausdruckswerte mit entsprechender Wirkung auf die Seele zugeordnet. Die »dorische« Skala (e1- e) wurde als »männlich, mutig« beschrieben, die »phrygische« (d1-d) als »wild, leidenschftlich, ekstatisch«, die »lydische« (c1- c) galt als Tonart der Klage, des Zarten, Weichen. Vorläufer der Oktavgattungen waren Melodiemodelle, »Harmoniai« genannt, mit typischen melodischen Wendungen, die noch nicht den Tonraum einer Oktave umfassten.»Harmonia«, im Griechischen die kunstvolle Mischung aus Hohem und Tiefem, hatte einen zentralen Platz in der Musiktheorie, doch dehnten die Pythagoreer ihren Geltungsbereich über das Klangliche hinaus weiter aus. Nach PtolemäusClaudius formulierten die Pythagoreer den Grundgedanken folgendermaßen: »Die harmonische Kraft wohnt allem inne, was seiner Natur nach vollendet ist und erscheint am deutlichsten in der menschlichen Seele und in der Bewegung der Gestirne«. Nikomachos, Pythagoreer des 1. Jahrhunderts v. Chr., überliefert, dass die Bezeichnung der Töne im »Systema teleion« von den sieben Planeten und ihrer Entfernung zur Erde inspiriert sei. Saturn sei zum Beispiel am weitesten entfernt, ihn symbolisiere also der »oberste Ton«, und entsprechend wurden den Planeten die anderen Töne der Skala zugeordnet. Andere Autoren sahen einen Zusammenhang zwischen der Dauer des Umlaufs eines Planeten um die Erde und der Tonhöhe, die er erzeuge. Von vornherein wurde die Klangrealität der so entstehenden »Spärenharmonie« allerdings infrage gestellt.»Melos« begegnet seit Alkman (2. Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr.) in musikalischer Bedeutung und bezeichnet Gliederung der gesungenen Weise, das zum Gesangsvortrag bestimmte lyrische Gedicht, wurde aber auch auf die instrumentale Weise angewendet. Der »Rhythmus« gliederte als »Ordnung von Zeiten« vor allem Sprache, Musik und Tanz.Erst zu Beginn der klassischen Zeit des 5. und 4. Jahrhunderts wurde für Musik bei den Griechen der Begriff »Mousiké« gebildet, der die nach den harmonischen Gesetzen geschaffene Melodie, den Rhythmus, Gesang, Instrumentenspiel, Reigentanz sowie die allem zugrunde liegende Poesie umfasste. Nach Abbildungen und Äußerungen in der Dichtung zu schließen, muss die »Mousiké« lange Zeit im Sinne dieser Ganzheit aufgefasst worden sein, bevor man das Wort prägte. Sie war in dieser umfassenden Bedeutung Teil der Lehre vom Ethos. Hier kam die philosophische Auseianandersetzung mit der »Mousiké« vor allem durch Damon, Platon und Aristoteles in Spiel. Sie entwickelten die Auffassung, dass durch die Wahl der Tonarten, aber auch von Rhyhtmus und Tempo sowie begleitender Instrumente eines Musikstücks dieses einen besonderen Ausdruckswert erhalte, mit dem man Jugendliche zum Guten und zum Bösen beeinflussen könne. Musik kam daher eine wichtige Rolle in der Jugenderziehung zu. Platon fasste sie geradezu als staatstragend auf. Er sah eine Gefahr für die Polis im Aufkommen einer» neuen Musik« mit erweiterten technischen Möglichkeiten des Musizierens durch einen vergrößerten Tonumfang der Instrumente, mit der Möglichkeit von einer »Harmonia« in eine andere zu modulieren, mit einem Stilwandel zum Beispiel im Dithyrambos und in der Tragödie, und er forderte daher die Beibehaltung der alten, hergebrachten Musik. Aristoteles, im ausgehenden 4. Jahrhundert v. Chr., an der Schwelle von der klassischen Epoche zum Hellenismus lebte und wirkte, erkannte zwar den erzieherischen Wert der Musik an, sie diente ihm aber auch zur Erheiterung und Entspannung. Mit ihm lockerte sich der ganzheitliche Begriff der alten »Mousiké«, ihre einzelnen Teile wurden nun stärker voneinander unterschieden. Spätere Autoren, wie Philodemus (1. Jahrhundert v. Chr.) und Sextus Empiricus (2./3. Jahrhundert n. Chr.) leugneten gar einen Zusammenhang zwischen dem Charakter einer Musik und deren Wirkung auf die Seele.Griechische Musiktheorie, griechische Musikanschauungen und zu einem kleinen Teil auch die Musikinstrumente wirkten in drei geographischen Bereichen fort, nämlich im griechisch-byzantinischen, im römisch-mittellateinischen und im arabischen Raum. Die europäische Musik ist durch das griechische Musiksystem, das von römischen Gelehrten überliefert wurde, entscheidend geprägt worden.Prof. Dr. Ellen HickmannMusikgeschichte in Bildern, begründet von Heinrich Besseler und Max Schneider. Herausgegeben von Werner Bachmann. Band 2: Wegner, Max: Griechenland. Leipzig 31986.Neubecker, Annemarie Jeanette: Altgriechische Musik. Eine Einführung. Darmstadt 21994.Pöhlmann, Egert: Denkmäler altgriechischer Musik. Sammlung, Übertragung und Erläuterung aller Fragmente und Fälschungen. Nürnberg 1970.
Universal-Lexikon. 2012.